Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand durch die russischen Suprematisten und die holländische Gruppe De Stijl eine Revolution des Bildbegriffs statt. Das Kunstwerk löste sich von der Vorgabe, Wirklichkeit abbilden zu müssen, und wurde zum autonomen oder, wie Theo van Doesburg es 1930 definierte, zum konkreten Werk. Geometrische Formen- und Flächenverhältnisse wurden zur Grundlage einer allgegenwärtigen und selbstverständlichen künstlerischen Sprache der Moderne. Nach der europäischen Avantgardebewegung der Konstruktivisten in den zwanziger und dreißiger Jahren intensivierten und systematisierten vor allem die Zürcher Konkreten um Max Bill, Richard Paul Lohse und Camille Graeser in den vierziger und fünfziger Jahren die Auseinandersetzung mit diesem Formenkanon.
Parallel dazu entwickelte sich in den fünfziger Jahren aber auch eine kritische Position gegenüber einem zu rigidem Festhalten am geometrischen Formenschatz. Man kann dabei von einer systemimmanenten Kritik sprechen, denn die Infragestellung der tradierten Methode der Bildfindung ging nicht von Künstlern aus, die diese rigoros ablehnten. Vielmehr befürchteten sie eine Erstarrung der Bildsprache und suchten deshalb auf der Grundlage der Geometrie nach Erweiterungsmöglichkeiten des Formenkanons. So griff Lucio Fontana in die monochrome, rechtwinklige Fläche des Bildes ein, indem er die Leinwand schlitzte, dadurch die strenge Geometrie aufbrach und die Bildfläche ins Dreidimensionale wölbte. Auch Christian Megerts Ausgangspunkt ist eine monochrome Fläche. Denn der Spiegel, Megerts primäres Arbeitsmaterial, ist zunächst eine monochrome Fläche, wenn er nichts widerspiegelt. Megert zerbricht und zerschneidet seine Spiegel in Scherben und löst so die geometrischen Ausgangsformen auf. Beide Künstler erweitern durch den Akt des Schlitzens und Zerbrechens die Auseinandersetzung mit geometrischen Formen durch ihre Auflösung. Beide greifen beinahe gewaltsam in das Werk ein und machen diesen Akt anschaulich.
Die geometrische Form und gleichzeitig ihre Störung, Zerstörung und Deformation ist auch der Ausgangspunkt von Sebastian Wickeroths Kunst. Dies kann die kraftvoll-brachiale Darstellung eines angedeuteten zerstörerischen Akts sein, wie in der Arbeit „strategie der steine 3“. Ein großer rechtwinkliger Block scheint aus so großer Höhe auf den Boden gestürzt zu sein, dass eine Kante völlig zertrümmert ist. Wickeroth spielt hier mit der Assoziationslust des Betrachters, der sich den sofort einsetzenden Bildern eines zerstörerischen Aktes nicht entziehen kann. Doch in Wirklichkeit zerstört Wickeroth hier nichts, er baut Zerstörung. Es kommt ihm nicht auf den Akt der Zerstörung an, sondern er konstruiert die dekonstruierte Form. Den Block von „strategie der steine 3“ hat er nicht durch einen Sturz zertrümmert, sondern schon in deformierter Form gebaut. Dabei thematisiert er gleichermaßen die strenge geometrische Form und ihre Deformation.
In „graceful degradation“ löst sich ein schwarzes Hochrechteck nach unten einfach auf. Das Objekt scheint seine Form nicht halten zu können. Die oben noch so exakte Form, die durch eine völlig makellose glatte Oberfläche zusätzlich betont wird, wirft Falten, wird schrumpelig und scheint zu schmelzen. Teilweise lässt Wickeroth dabei sogar die Unterkonstruktion, den Rahmen, aufscheinen. In diesen Arbeiten nähert sich Wickeroth den Werken des Amerikaners Steven Parrino, der geometrische Flächen deformiert, indem er die Leinwand vom Rahmen löst, um sie neu und verknittert wieder aufzuspannen. Doch im Gegensatz dazu spielt in Wickeroths Arbeiten eine Reflexion über den Bildbegriff eine untergeordnete Rolle. Er entwickelt seine Werke aus der Perspektive der Bildhauerei. Seine Oberflächen sind von einer extremen Glätte und perfekten Neutralität, die auf industrielle Fertigung und nicht auf Malerei Bezug nehmen. Meist sind seine Installationen auch aus mehreren Teilen zusammengesetzt, die dann im Zusammenspiel zu einer Konfrontation von klarer geometrischer Form und der Auflösung der Orthogonalität führen. „untitled – fragile“ besteht etwa aus drei gleich großen, übereinander angeordneten schwarzen Querrechtecken. Das oberste stößt mit einer Kante so in das darunter liegende Rechteck, dass dieses deutlich deformiert wird und sich die Verformung und der dadurch ausgelöste Faltenwurf der Oberfläche bis ins dritte Rechteck fortsetzt.
In der 2009 für das Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt realisierten Arbeit „immer darüber hinaus“ trennt Wickeroth die strenge geometrische Form und das scheinbar formlose Chaos erstmals deutlich voneinander. Ein großer geometrischer Kubus mit einer hochglanzlackierten Oberfläche überragt einen Haufen aus zerbrochenen, gelb lackierten Rigipsplatten. Die Ordnung des Kubus und das Chaos der Rigipsplatten, Form und Antiform stehen einander gegenüber, betonen sich wechselseitig und stellen sich gleichzeitig gegenseitig in Frage. In seiner monochromen Farbigkeit und seiner perfekten Oberfläche – Wickeroth spannt Lackfolien über eine Rahmenkonstruktion – zitiert der Kubus die amerikanische Minimal Art, deren einfache geometrische Körper aus vorgefertigten industriellen Materialien wie Plexiglas, Edelstahl oder Aluminium bestehen. Die Lackfolie in Wickeroths Arbeiten spielt auf diese hochwertigen Materialien an und täuscht einen polierten Kunststoffkörper vor. In „vielleicht morgen“ setzt er die Folie so geschickt ein, dass das Spiel aus Form und Deformation den ganzen Umraum mit einschließt. Auf der flachen Bodenarbeit biegt sich die Folie leicht nach unten durch und verzerrt dadurch die Widerspiegelung des umgebenden Raumes. Die Form wird somit nicht mehr nur im Werk selbst dekonstruiert, sondern greift visuell auf die statischen Formen der Architektur über. Der Raum wird zum integralen Bestandteil der Arbeit, obwohl diese scheinbar als autonome Skulptur angelegt ist. Bei der Betrachtung gewinnt die visuelle Deformation des Raums eine solche Dynamik, dass die Form der Installation dahinter deutlich zurück tritt. Wickeroth relativiert die Wirkung der Form ohne dekonstruierend einzugreifen.
Wie stellt man sich den Errungenschaften der historischen Avantgarden zu Beginn des neuen Jahrhunderts? Wie kann die Auseinandersetzung mit der Form heute aussehen angesichts der langen Tradition der schier übermächtigen Geometrie? Mit einem gewissen Brutalismus geht Wickeroth gegen die formalistischen Prinzipien der Kunst des 20. Jahrhunderts vor. Seine Werke sind eine ideologiekritische Befragung tradierter ästhetischer Positionen, indem er das Streben nach Ordnung und Klarheit immer mit der Gegenposition konfrontiert. In dem Untertitel einer Arbeit „form fucks function“ nimmt Wickeroth unmissverständlich Bezug auf die historischen Avantgarden. Im Vordergrund steht jedoch grundsätzlich die Konstruktion. Denn selbst wenn seine Arbeiten assoziieren, dass sich die finale Gestalt einer radikalen Geste der Zerstörung verdankt, so ist doch auch die Anti-Form, das Chaos, die Zerstörung von ihm konstruiert. Konstruktion und Dekonstruktion der Form, Ästhetik der Geometrie und ihrer Überwindung, offensichtliche formale Strenge und ihre ironische Brechung durch Anarchie und Scheitern vereinen sich in seinem Werk. Sebastian Wickeroth führt so Punk und Minimal auf erfrischende Weise in seiner Kunst zusammen.
Tobias Hoffmann |